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Davos
von M. E. Stroughton

Zu welchen Untaten wäre man fähig, wenn man sich erhoben fühlte, die Tragfähigkeit des Alltags zu verlieren, und alle Dinge so ungehindert auf einen einwirken liese, dass einem im  Gefühl der hohen Lust der Boden unter den Füßen wegbräche? Welcher Unbill würde man sich ausetzen, wollte man einem so plötzlichen Drang freien Lauf lassen, und sogleich dem Blick einer Frau folgen, wenn man davon nur getroffen würde? Es bedarf der Psychologie nicht, um zu erklären, wie leicht aus einer Plauderstunde mit einem Freund im Café ich zu einem solch unglücklichen Abenteuer hätte aufbrechen können, ja, plötzlich auf mein geordnets Leben hätte pfeifen wollen.
Als wäre die Mitte Europas in diesen Wintertagen, wo uns England verloren gegangen schien, nach Leipzig verschoben worden, saß ich an einem Mitteltisch mit Fensterblick in einem Café, das „Maître“ hieß und das beste zu bieten versprach, was es hier in alter Manier zur Kaffee- und Kuchenzeit gab. Links von mir strahlte ein offensichtlich wohl bearbeitetes, gebräuntes orientalisches Gesicht mit ausholender Nase unter langem glatten Blondhaar und unterhielt sich in fließendem Deutsch mit einer anderen Blondfrau, die mir ihren langen, in Turkis gekleideten Rücken entgegen streckte. Beide waren mit glänzendem Gold an Finger und Nacken geschmückt, geglättetes, straff über die Schultern fallendes, leuchtend blondes Haar, wie es eben nur gefärbt sein konnte. Das ist eine für diese Stadt herausragende Einmaligkeit der Begegnung. Solche Erscheinungen hatte ich kürzlich in Dubai. Mein unterdrücktes Bewusstsein spülte den neuen goldbeladenen Orient hervor, während Anders mir gegenüber saß und von der Tiefe und Schönheit der fast untergegangenen originalen DDR Architektur in Leipzig erzählte.
Ich war durch den Clara-Zetkin-Park herübergestreift, zu einem Teich mit chinesischer Brückenlandschaft, der nur noch halb zugefroren war. Es war nicht zu ersehen, ob das dünne Eis sich festigen oder völlig abschmelzen würde. Einer mit Namen übrig gebliebenen Karl-Liebknecht-Straße folgend, sinnierte ich über Davos und den Klimawandel. Auch hier, konnte ich mich nicht entscheiden. Die Nachricht vom Morgen, dass es jetzt im Aosta-Tal  zu Schneeverwehungen gekommen war, während die im Süd-Piemontesischen unter einem beständigen, trockenen Azzurro zu leiden hatten, blieb irritierend. Ich hatte Anders in einem Buch versunken vor dem breiten Fenster angetroffen und setzte mich zu ihm. Yukio Mishima, sagte er, eigenartig fremder japanischer Schriftsteller, Roman. Da sagte ich,  ein wichtiger, älterer, uns beiden sehr bekannter Autor, ha? Ich setze mich zu ihm, um in nicht enden wollender Breite zu erzählen, was ich diesem Autor verdanke, dass ich einmal mit großem Erforlg an einer Inszenierung seiner No-Spiele beteiligt war. Frankfurter Studentenbühne im Winter 1963, man stelle sich vor: 500 Leute, Frankfurt damals. Ich durtfte eines der Spiele inszenieren und spielte sebst einen grellen Tanzmeister, der einer tragischen Aristokratin den Hof machte. Als der Tanzmeister ihr ein Geschenk überreichen wollte, fand er das Requisit – ein Schmuckkästchen - nicht in seiner Hosentasche. Er knuttelte in seiner seiner bunt karrierten Aufmachung, kam mit der rechten Hand heraus, präsentierte sie mit großer Geste flach an der schönen hohen Frau vorbei ins Publikum, und machte so groß scheinende Augen, als befände sich das größte Stück Gold auf seiner Handfläche, das es hier in Japan geben konnte. Er zog mit dem linken Zeigefinger in Quadern geformente Figuren in die Luft, während er mit den vorzüglichsten Worten, sein für alle nun unsichtbar bleibendes Geschenkkästchen mit dem nicht vorhandenen Gold darin anpries. Alles so sicher und überzeugend, dass von der Knuttelkrise in der leeren Hosentasche im ganzen Saal nichts mehr zu merken war. Natürlich konnte ich mich bei Nennung des Namens von Yukio Mishima nicht zurückhalten, wie ein kleiner Aufschneider gestikulierte ich zwischen Anders und den beiden Orientfrauen hin und her. Japanische No-Spiele, meine erste eigenständige Theatererfahrung, sagte ich zu Anders, das war kein guter Anfang für meine so sehnsuchtsvoll angestrebte Literatenlaufbahn. Und doch, aufgeblüht impertinent überlies ich jetzt Anders, ich merkte es, nicht den geringsten Raum, wo er mir die stilistische Eigenart dieses verschobenen japanischen Autors hätte erklären können.
Die orientalischen Damen halb links im Rücken parlierten weiter, und beim Thema deutsche Sprache kam Anders auf einen Autor zu sprechen, der in der Wetterau lebte und das von Römern und Hessen gefärbte Lokal-Kolorit zur Literatur verarbeitete. Das müsste ja meine Heimatssprache sein und könnte zur Festigung meiner eigenen verkommenen Literatursprache dienen. Über Anders hinweg fiel mein Blick in die über die Straße strahlende Atmosphäre einer weißen Leipziger Altbaufasade. Vom Seitentisch rechts nahm ich jetzt ein heftiges Geplauder in Französisch wahr, und plötzlich das volle Gesicht einer jungen Französin mit lockerem, natürlichen, leicht dunklem Blondhaar über die Stirn fallend und ständig aus einem ungebetenen lichten Ponyschnitt herausbrechend; ein zartes Gesicht mit im Lachen und selbst im Lächeln noch gebändigten Wangenfalten, freundlich und höflich und mit großer Ruhe immer wieder in den heftigen Redestrom eines ihr gegenüber sitzenden – mir den Rücken zeigenden – jungen Mannes einfallend, schwarze Haare, schwarzer kurzer voller Bart, Franzose wie sie offensichtlich, aber vielleicht doch maghrebinischer Herkunft. Ich merkte, wie sehr mich das Gesicht und die Haltung dieser Frau gebannt hatten und schenkte ihr mein Blicken, wenn nun auch weniger häufig, weil ich Angst davor hatte, dass es doch ungehörig erscheinen mochte.
Ich erzählte Anders von meinem Dorf im nördlichen Odenwald, das mir verloren gegangen war. Bei all meinen Übungen, meinen Dialekt zu verleugnen, war mir über viele Jahre das Dorf fast aus der Erinnerung gekommen, und als ich jetzt in letzter Zeit wieder anfing, mich mit Gestalten und Formen des Dorfes zu beschäftigen, schien mir das bemerkenswerteste, dass das Dorf sich an drei Hügeln entlang zog, zwischen denen wir im Winter stolz mit unseren Schlitten hin und her zogen. Sie alle trugen einen Tiernamen: Rossberg, Rehberg, Geisberg.
In meinem Reden blieb ich immer wieder am Gesicht der Französin hängen, die den werbenden Schwarzhaarigen in aller Ruhe und Güte auf Abstand hielt. Was für eine süße französische Freundlichkeit. Ich konnte Neid und Eifersucht kaum verbergen. Es waren immer nur kurze Momente, winzige Augenstreife, mit denen ich sie traf, ohne überhaupt nur von ihr eines Blickes gewürdigt zu werden. Und doch, welche Schönheit im Ganzen. Immerhin war es mir gelungen, meine unbeantwortet gebleibene Aufmerksamkeit so zu beschränken, dass sie Anders verborgen bleiben musste. Und doch, ich erschrak innerlich sehr, als ich merkte, mit welch spontaner Inbrunst ich, gar Liebe und Schicksal bedenkend, mich zu geben bereit war. Gerade weil kein leichtes Abenteuer zu erwarten war, ehr eine unerwartete, unglückliche Richtung meines Lebens, packte mich ein Gefühl von ungeheuerlicher Tiefe. Sie hatte wirklich ein glänzendes und mit ihren Haaren spielend eingefasstes, rundes Gesicht, starke Schultern, einen leichten und doch kräftig wohligen Woll-Pullover. Die Falten dieses schönen Stücks fielen so stark über den Oberkörper der Frau, dass – wie perplex mir  jetzt auffiel - ihre Brüste wie eingefallen oder gar unerrreichbar erschienen. Das Paradox war, dass dieses Bild der quasi verschwundenen Brüste – aber hier und da eben doch die zur Erscheinung kommenden runden Formen – einen so erotischen Affekt erzeugten, dass ich immer wieder fragend hinblicken und zugleich den Blick schnell wieder abwenden musste. Zum erhofften Augenkontakt mit der jungen Französin kam es nicht. Vielmehr sollte sich jetzt mein Gespräch mit Anders neu ordnen, ohne dass es mir gelang, meinen inneren Drang nach Nähe zu bannen. Oh, und mit welchem Drang folgte ich den Konturen dieser lieblichen Frau.
Wetterau und Rossdorf, Andreas Maier und der sprachliche Reichtum der lokalen hessischen Dialekte, ja selbst die Fetzen des politischen Gesprächs über Syrien und Iran konnten mich nicht gänzlich davon ablenken, mich diesem, meinem süßen Objekt zu widmen. Es sollte hier schwächlich bekannt werden, dass die junge, freundliche Französin, die Schönheit ihres Antlitzes und die Sprühkraft ihrer unter den Wollfalten ihres Pullovers sich ankündigenden und zugleich wieder verschwindenden Rundungen mich so sehr gefangen hielten, dass sie mir von da an nicht mehr aus dem Sinn kamen.
Später zu Hause schlage ich noch einmal die Seiten auf, in denen vom eingeschneiten Aosta-Tal  und dem bevorstehenden Fest des Heiligen San Orso die Rede war. Die japanischen No-Spiele von Yukio Mishima fand ich nicht. Eine Figur, ein Römisches  Pferd auf Rollern, und eine zweite, eine bunt gefiederte Bresse, französisches Huhn, auf einem angespitzten Stumpf, waren mir als valdostanische Holzschnitzereien von dort noch aus alter Zeit geblieben, wie Nippesfiguren uneinholbaren Kitsches standen sie jetzt kahl vor mir im Regal, obwohl ich sie doch immer als einmalige Kunstwerke eines Freundes pflegte. Fällt mir zum Trost noch ein, dass Nietzsche im Winter fast nie in den Alpen war, jedenfalls nicht in Davos und dass ein solcher Winter voller Schnee vielleicht auch nie mehr nach Leipzig oder gar über das traurige Röcken kommen würde, in diese verschobene Mitte Deutschlands.

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