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Heute ist der Öffnungstag meines Stammcafès in einem Kunst-Museum, und ich hatte beschlossen die Gelegenheit wahrzunehmen, in der Abendsonne ein Bier zu trinken. So gegen 18:00 Uhr bin ich hinüber durch den Park gestrichen, am lebendigen Ententeich vorbei und suchte dann über der Straße auf den vor dem Café ausgestellten Tischen nach einem Platz. Alle Tische waren besetzt. Ich musste also meine Maske aufsetzen und im Café selbst Platz nehmen. Ich hatte eine Kopie des kürzlich in derAsia Times International  erschienenen Aufsatzes von Pepe Escobar, „How-to-think-post-Planet-Lockdown“* gefaltet in der Tasche.
Das Bemühen des Autors uns zu sagen, womit können wir jetzt noch rechnen?, wurde zugleich mit den von ihm gestellten Fragen deutlich. Wie steht es noch mit der Berechenbarkeit der Eliten? Wie weit ist die Fragmentierung der Zivilgesellschaft fortgeschritten? Hat sich der „König“ jetzt schon vollständig als „nackt“ entpuppt? Woraus ist dieser Zustand herzuleiten? Escobar wäre nicht ein alter Linker, wenn er nicht auf die Geschichte der Gesellschaft und des Kapitalismus einginge: a) Die Schock und Schmerz Akribie, mit der 200 Jahre Kapitalismus an der Eroberung der Natur gearbeitet haben (eine Vielfalt komplexer Systeme hervorzubringen, die selbst miteinander kollidieren); b) Das Instrumentarium des kapitalistischen Wandels richtet sich aber jetzt nicht mehr nur auf die Eroberung der Natur, sondern unmittelbar auf die der menschlichen Natur selbst. Auf 3 Befunde weist er hin: 1.) die ungehinderte Bevölkerungsexplosion, 2.) der stetig wachsende Energieverbrauch, 3.) das Tsunami der Informationen. Alles liegt gefangen in der Intensivierung der Bio-Politik und Verstaatlichung der Kontrolle aller Lebenszusammenhänge: eine neue Totalität der Mechanik des digitalen Kapitalismus ist die Folge. Es steht fest, dass die ‚Maschine‘ nicht eigentlich mehr auf das Wissen der Arbeiter angewiesen ist, vielmehr ist deren Wissen in den ‚Maschinen‘ selbst schon eingeschrieben und in allen Vorgängen verkörpert. Die ‚Maschine‘ ist die treibende Seele des Kapitalismus. Parlell dazu hat sich eine politischen Lage ergeben, die vollständig von der Normalisierung des Ausnahmezustands und der zunehemden Brutalisierung der Akteure gekennzeichnet ist. Man spricht von einer psychischen Epidemie, einer Deflation der menschlichen Psyche. Alles breitet sich über den ganzen planetarischen Körper aus. Es handelt sich um einen semiotischen Virus in der Psycho-Sphäre, der das abstrakte Funktionieren der Ökonomie zerstört. Es tritt eine Akkumulationsbremse ein, die den Kern des kapitalistischen Systems trifft: das wirtschaftliche Wachstum. Zugleich mit der systemischen Intensivierung und Extensivierung tritt eine Verarmung der Entwicklungspotenziale ein: Nichts was effektiv sein könnte, gerade weil es außer-systemisch wirkt, kann noch toleriert und produktiv werden. Das ist die faktische Normalisierung des Ausnahmezustands: Permanenz der Verwirrung. Jeder Begriff der Geschichte verliert seine Richtungs-weisende Bedeutung, weil er unmittelbar dem SicherheitsInteresse der Menschen untergeordnet wird: virale und Immunitäts-Körper bauen sich auf. – Die Bezeichnung und Diskussion dieses wirren Zustands, so versucht Escobar (von Deleuze und Mbembe ausgehend) anzudeuten, müssen schließlich nicht nur auf Hilflosigkeit der Menschen hinauslaufen: Neue Landschaften der Bewegung entstehen. Der Lock-down lehrt neue unmittelbare Bewegungsfreiheiten, stärkt die Reaktionskraft gegenüber dem Unvorhergesehenen; spontane Reaktion erscheint als Chance, den Lebensbaum zur Entfaltung neuer Zweige zu bringen: Eine neue Bedeutung der Poesie im weitern Zug der Emanzipation.
Bei soviel Hoffnung, bekomme ich hier noch am Abend kurz vor 20.00 bei meinem Museums-Bäcker das beste Baguette in meiner Stadt und mit der chinesischen Beleuchtung des Cafès im Rücken ziehe ich auf japanischen Brücken über den wilden Park-Teich, wo Enten, „ausländische Rebhühner“, Fischreiher und – man glaubt es nicht – fremde Möven miteinander spielen und die Kinder morgen hoffentlich nicht mit einem Zuviel der Brotfütterung „unwissend“ Bio-Böses anrichten, nach Hause.         
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*https://asiatimes.com/2020/04/how-to-think-post-planet-lockdown/

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