Systemtheorie in Kairo

Systemtheorie in Kairo

 

Meingast war sicher überpünktlich zum Empfang ins Gästehaus gekommen. So saß er da jetzt vertieft im leeren Saal. Nie hätte er gehofft, dass es Niklas Luhmann einmal nach Kairo bringen könnte. War es das, was ihn beunruhigte, wie sollte er ihm begegnen? Und Luhmann, war es jetzt diese Welt voller mystischer Bildgewalten, die ihn anzog? Wider allem Anraten der Ärzte hatte er das Krankenhaus verlassen und war nach Kairo geflogen. Meingast kannte ihn gut. Er war ein praktischer, sehr pragmatischer Vernunft-Mensch. Zwei Jahre saß er mit ihm im ‚Ausschuß für Lehre‘, dem Luhmann vorsaß. So hilfreich brachte er immer sein Bandgerät mit in die Sitzung. Mit kurzen, Ergebnis-relevanten Sätzen.ersparte er mir das Schreiben des Protokolls. Meine Fellachenstudie, war ihm zu komplex. Aber meine Schilderungen der Existenzprobleme der ägyptischen Bauern, hatte sein Interesse geweckt. Jetzt kommt er hier her, als wäre er ohne jede Vernunft. Na ja, alles was jetzt hier um ihn ablief, blieb doch im Rahmen einer Pflichterfülling in der Profession? Er war zwar einer Einladng ohne Rang gefolgt, sicher, aber sie schien ihm von außergewöhnlicher Bedeutung. Zur Unzeit hatte ein ehemaliger Student die kurze Gast-Professur für ihn an einer Kairoer Universität organisiert. Meingast konnte es sich nicht anders erklären: Niklas Luhmann war offensichtlich von einer Art mystischer Beschwörungsgewalt ergiffen. Spät, zu spät, wie Meingast meinte, hatte sie auf ihn gewirkt.

Meingast – mit all seiner Erfahrung mit der ägytischen Kultur - war eher der Überzeugung, dass man heute mit Wissenschaft schwerlich noch Gesellschaft verstehen kann. Aber das war Luhmanns Programm. Jetzt fiel Meingast wieder diese alte Idee ein. Kann es einen ästhetischen Systembegriff geben? Kann man ‚System‘ vielleicht noch mittels Kunst und Ästhetik methodisch im Kleinen zu begreifen versuchen. Man könnte damit der systemtheoretischen Zerstückelung der Welt begegnen. Die Gefahr der Soziologie, sie könne nur als Verschlüsselung ihrer selbst in der inneren Apparatur des Sozialen noch erfahren werden. Meingast, zweifelte zu sehr an sich selbst, und wusste nicht wie er vor seinen ögyptischen Freunden Luhmann begegnen sollte. Sollte er als Kontrahent auftreten, und war es nicht hochmütig einfach weg zu bleiben? Unmöglich, hier in Kairo mit Luhmann einen Diadochenkampf über den wissenschaftlichen Gehalt seines „System“-Begriffs zu führen.  Als sich im Saal zwischen Meingast und den gedeckten Tischen allmählich einzelne Gestalten bewegten, brach er sein Raisonieren ab. Man hatte ihn inoffiziell zur Teilnahme an den Vorträgen und Diskussionen gebeten. Er hatte aus gutem Grund abgesagt.

Meingasts Lesart war so eine sehr einfache, er war privat im Frühsommer 1995 in Kairo, wo man sich noch für „Systemtheorie“ interessierte, aber nicht für Meingast. Sie hatten Niklas Luhmann eingeladen, aber nicht ihn. 7 Tage im großen Gästehaus der Universität in Abbasiyya, Vortäge und Rundreisen.

-Sie werden Dich sicher zum Empfang einladen, sagte Deingast, der sich ebenfalls in Kairo aufhielt, Forschungsaufenthalt am französischen CEDEG. –Sie wissen, dass Du da bist und werden Dich sicher einladen. Deingast wollte beschwichtigend wirken, und Meingast, wer war er schon, wollte es überlegen.

Dann, als Mamdouh, im Amt des Vize-Präsidenten der Ain Shams Universität ihn anrief, konnte er nicht nein sagen. –Selbst das Leben, murmelte er im Stillen danach vor sich hin, das hier so lebendig sprudelnde Leben, will er in Zellen und Atome zerteilen, nur um darzustellen, wie sehr alles doch zum „System“ gehört. Lass‘ gut sein, Teilnahme am Empfang, ja, Vorträge, nein.

Im Flur des Gästehauses – keine Spur von Vize-Präsident Mamdouch - war Meingast vom Präsidenten selbst empfangen worden, als würde es sich um Luhmann handeln. Der aber war noch nicht da und kam wegen Verzögerungen bei der Stadtrundfahrt etwas später. Der Präsident hatte Meingast zur Sitzreihe an der Front des Saales geleitet. Später dann als alle Misverständnisse bereinigt waren und Luhman gekommen, ließ er ihn neben Meingast Platz nehmen. Der Präsident setzt sich, redet aber nur Ägyptische Dinge. Luhmann tauschte mit Meingast ein freundliches, ja, herzliches Händeschütteln aus.

-Nach so langer Zeit, rief er. Was Meingast nicht erwartet hatte, Luhmann zeigte sich ausgiebig interessiert an Meingasts Karriere. Mit krächzender Stimme sagt er,  -es ist schade, dass die Kollegen den Islam-Lehrstuhl nicht einrichten wollten. Meingast winkte ab, Luhmann sprach von verpassten großen Möglichkeiten.

Deingast kommt jetzt dazwischen und setzt sich kühl und sittsam neben dran. Der Präsident beendet seinen ägyptischen Plausch mit den anwesenden Honoratioren. Der Präsident entführt Luhmann und bittet alle zu Tisch. Meingast wird von der Frau des Dekans der Philosophischen Fakultät der Kairo Universität in Beschlag genommen, unmöglich an einen anderen Tisch zu entkommen, Deingast findet das gut und schließt sich an. Man spricht Deutsch, schließlich handelte es sich um eine bekannte Volkskundlerin aus dem Bonner Stall. –Wie waren die Vorträge? Da war Deingast angesprochen. Er berichtete von dem Chaos der ersten beiden Sessionen vor fast allen Soziologen und Philosophen der beiden großen Kairoer Universitäten. –Luhmann ist nicht mehr der Alte, sagte er. Sein Kehlkopf funktioniert schlecht, und die Ägypter, die Ethnologin lächelte, können ihn wirklich nur begrenzt verstehen. Einer wollte das Fenster aureisen und Luhmann mit dem Massenchaos draußen auf der Straße konfrontieren. „Wo ist hier ihr System?“ war die Frage. Luhmann habe gelächelt und ruhig geantwortet, -ja, was sie hier als Alltags-Chaos erleben, ist vielleicht nur ein unausgewogenes Nebeneinander von kleinen oder kleinsten Teilsystemen, der Eselskarren, der unbedarfte Polizist vor dem Rotlicht, die dampfenden und staubenden Lastwagen, alles Überbleibsel von früher oder einfach unterentwickelt. Alles wird sich aber doch bei weiterer Entwicklung zu einem Ganzen fügen, etc. Luhmann konnte die Ägypter, die in diesem Chaos ihren Volksgeist am Blühen sahen, nicht überzeugen.         

(Meinast und Deingast einigten sich später auf das folgende Resümèe: Als Niklas Luhman 1995 zu einer Vortragsreise nach Kairo kam, traf er auf eine soziale Welt, die er so nicht kannte. Die Reaktion seiner ägyptischen Kollegen auf seine Systemtheorie war entsprechend. Sie zeigten nach draußen in die Realität der Straßen und fragten, wo ist da das System? Zeigten auf Eselskarren, Rote Verkehrsampeln, die – wenn auch von Polizisten bewacht – nicht beachtet wurden.  Luhmann insistierte auf systemischer Reduktion der Komplexität, auch hier werde die funktionale Differenzierung, wenn auch verlangsamt, zu neuen Ordnungen führen. Die Ägypter beharrten auf ihrem Spezialfall, und mochten Luhmann nicht glauben. Meingast fügte mit Unterstützung von Deingast hinzu: Die 20-Millionenstadt Kairo liegt auf den Hügeln über dem Ostufer des Nils (al-Gabal). Luhmann blieb von dem kurzen Gang durch die bunten Menschmassen am Tagesmarkt vor der Moschee der Sayyida Zeinab (Enkelin des Propheten, die einst bei der Arabischen Besetzung Ägyptens eine so große Rolle gespielt hatte und heute von Millionen Schiiten und Sunniten gleichermaßen als Heilige verehrt wird) unbeeindruckt. Auf der anderen Seite, im Westen, dort hinter den Pyramiden geht die Abendsonne schnell aber in tiefem Rot unter. Noch wirft die Sphinyx lange dunkle Schatten. Luhmann nutzte den letzten Tag seines Aufenthalts in Kairo zu einem Besuch bei den Pyramiden, dann flog er zurück nach Deutschland, wo er wenige Monate später, an der Krankheit starb, die ihn schon gezeichnet hatte.)

Erschrocken las Meingast, was Rudolf Stichweh kürzlich (in der FAZ 7. April 2020, Seite 9) schrieb: Es geht ihm um die „Simplifikation des Sozialen“ unter der Einwirkung des mit der Corona-Pandemie verbundenen Kontaktverbots. Er bleibt der systemtheortischen ‚Bildsprache‘ seines Lehrers Luhmann verbunden und sieht in dieser Situation, gewissermaßen am Ende der ‚funktionalen Ausdifferenzierung‘, „alles auf Intimbeziehungen und Familie als Funktionssystem“ reduziert. Wäre das nicht umgekehrt als eine Wiederkehr alter Komplexitäten zu interpretieren? Auch wenn man Luhmanns Erfahrungen in Ägypten nicht teilt. Dort versucht ein militär-autoritärer Präsident - unter Anwendung höchst suppressiver traditionaler Gewaltmittel des Staates – die sytemische Erweiterung und Intensivierung des ‚Systems‘ in der Gesellschaft zu betreiben. Die Pandemie kommt ihm dabei noch gerade recht. 

 

 

   


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